Heute ist der 15. Dezember 2014. Heute vor 68 Jahren schrieb mein Uropa einen Brief an meine Uroma. Es war nicht irgendein Brief. Es war ein Lebenszeichen, ein Weihnachtsgruß, eine Liebesbotschaft aus russischer Kriegsgefangenschaft, in der er sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit Juni 1945 befand. Ich habe diese Briefe vor vielen Jahren von meiner Uroma bekommen. Beim Aufräumen fielen sie mir wieder in die Hände und diese Worte unsicher, verzweifelt, voller Sehnsucht und Liebe fesselten mich erneut.
Russland, d. 15.12.46
Liebe Mutti u. Kinder!
Teile Euch kurz mit, dass es mir gesundheitlich noch gut geht. Dasselbe ich auch von Euch allen hoffe. Liebe Mutti, warum schreibt Ihr nicht mehr? Die letzte Post bekam ich im August von Euch. Ich erwarte mit grosser Sehnsucht mal wieder ein Lebenszeichen von Euch allen. Schreibt Briefe u. Karten, soviel Ihr könnt. Nun ist das liebe Weihnachtsfest wieder da und Ihr allein ohne Vati am Weihnachtsbaum. Liebe Mutti u. Kinder feiert das Weihnachtsfest so gut Ihr könnt u. macht Euch keine unnötigen Sorgen um mich, ich bin gesund, ich werde sehr an all die schönen Sachen denken, die du immer so schön zubereitet hast, liebe Hedi. Nun nochmals alles Gute u. viel Glück im neuen Jahr. Vielleicht kehre ich bald heim. Liebe Mutti u. Kinder, viele Grüsse und Küsse aus weiter Ferne sendet Euer Vati.
Ich habe diese Briefe etliche Male gelesen und jedes Mal, wenn ich das tue, laufen mir unweigerlich Tränen übers Gesicht. Ich vermag nicht daran zu denken, wie sich mein Uropa gefühlt haben muss, als er vor fast 7 Jahrzehnten diese Worte schrieb. Nicht wissend, wie es seiner Frau und seinen 3 Kindern ging und mit dem quälenden Wunsch auf eine Reaktion, ein liebes Wort, eine Geste, dass der Mensch, den er liebt, auch an ihn denkt und ihn vermisst. Aber die Liebe erträgt alles und so verbrachte er weitere Monate wartend und hoffend.
Er bekam keine Antwort auf diese Zeilen. Warum, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht konnte meine Uroma nicht antworten, vielleicht kamen ihre Briefe bei ihm nicht an, wurden zurückgehalten. Ich traue mich kaum daran zu denken, dass sie vielleicht auch einfach nicht antworten wollte. Möglich ist alles, denn niemand sprach im Nachhinein über diese Kriegszeit. Und wenn ich ihr als Kind Fragen stellte, dann umriss sie das Geschehene meist nur schemenhaft.
Es zerreißt mich förmlich nachempfinden zu können, wie groß seine Sehnsucht, seine Unsicherheit, seine Liebe, aber auch seine Verzweiflung gewesen sein müssen. Von dem Menschen, den man liebt, kein Lebenszeichen mehr zu bekommen, keine Reaktion, gar nichts, tut weh. Es quält. Erst recht in der Weihnachtszeit, in der man zur Ruhe kommt, besinnlich wird und darauf hofft, nein vertraut, dass die Menschen, denen man etwas bedeutet, einem das auch sagen oder zeigen. Das war vor 68 Jahren so und daran hat sich auch heute nichts geändert.
Arthur Kühnast wurde am 12.12.1910 geboren und heiratete am 17.11.1934 meine damals 20-jährige Uroma Hedwig Friederike Kühnast.
Er war, so meine Erinnerung, Zeit seines Lebens Eisenbahner, züchtete Kaninchen, gewann damit Preise und wurde erst kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, 1944, zum Kriegsdienst eingezogen, weil man ihn dort bei der Eisenbahn brauchte.
Nach Kriegsende kam er in russische Kriegsgefangenschaft, tausende Kilometer weit entfernt von seiner Frau und seinen 3 Kindern. Alles, was aus dieser Zeit übrig geblieben ist, sind sein Kriegstagebuch und 14 Briefe bzw. Postkarten, die er seinen Lieben nach Hause schickte.
Meine Urgroßeltern und ich. |
Am 20.7.1947 kehrte er nach 2 Jahren Gefangenschaft zurück nach Hause und lebte bis zu seinem Tod am 13. Januar 1985 mit seiner Frau in dem Haus, das er 40 Jahre zuvor verlassen hatte.
Noch kurz vor seinem Tod feierten er und meine Uroma Goldene Hochzeit. Sie überlebte ihn um 20 Jahre und starb am 13.5.2005.
Meine Urgroßeltern am 17.11.1984 zu ihrer Goldenen Hochzeit |
Ich wollte diese Geschichte mit euch teilen. Denn sie ist Ausdruck der Sehnsucht, die wir alle in unserem Herzen tragen, Ausdruck von einem Grundbedürfnis, das Kinder wie Erwachsene haben. Wir leiden, wenn wir von den Menschen, die uns wichtig sind, keine Beachtung mehr geschenkt bekommen, vielleicht sogar keine Liebe. Wir leiden, wenn wir nicht mit den Menschen zusammen sein können, die wir lieben. Vielleicht sind wir es, die manchmal nicht lieben oder manchmal diese Liebe nicht empfangen können. Trotzdem ist dieser Wunsch, dieses Grundbedürfnis nach Geborgenheit und Liebe tief in unserem Herzen verankert.
Die Geschichte meiner Urgroßeltern zeigt aber auch, dass Liebe geduldig ist, erträgt, hofft, glaubt, allem standhält.
Sagt den Menschen, die euch etwas bedeuten, wie wichtig sie euch sind, lasst sie wissen, dass ihr an sie denkt, wenn ihr nicht zusammen sein könnt und vertragt euch, wenn ihr im Streit liegt. Seid milde und bestraft euch nicht mit besonderer Härte, wenn ihr böse aufeinander seid. Nutzt die Weihnachtszeit, um aufeinander zuzugehen, näher zusammen zu rücken oder um einem lieben Menschen einfach nur zu sagen, dass er euch wichtig ist. Ein Mensch, der es bis in eure Gedanken, bis in euer Herz geschafft hat, verdient es, zu erfahren, dass euch etwas an ihm liegt. Egal was war, egal was ist, egal was sein wird.
Anonymous
15/12/2014 at 12:59 (10 Jahren ago)Liebe Jessika,<br /><br />Ich bin wirklich berührt und bewegt von deinem unglaublichen und warmherzigen posting. <br />Du hast mich zum nachdenken gebracht und ja, es stimmt, wie oft wir nur an uns und unseren Gefühlen denken und dabei vielleicht jemanden verletzen. Ich werde ab heute öfter meinem Mann und meinem Sohn sagen und auch zeigen wie wichtig sie mir sind.<br /><br />Danke!!!<br /><br />
Frau Mutter
21/12/2014 at 09:47 (10 Jahren ago)<br />Das ist ein sehr schöner Blogpost, den ich gerne gelesen habe. Furchtbar ist das Schweigen dieser Generation. Aber wahrscheinlich konnte man nur so nach dem Krieg weiterleben.