Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.
John Lennon
So in etwa könnte man das beschreiben, was wir in den letzten Wochen erlebt haben…
Ein Wunder!
Völlig unverhofft hielten wir Anfang Juni einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen. Wer unsere Vorgeschichte kennt weiß, dass das theoretisch gar nicht möglich war und doch hatte sich eine kleine Überraschung in unser Leben geschlichen.
Anders als in der Schwangerschaft von unserer großen Tochter, in der ich mir ständig Sorgen machte und bis zum Ende Angst hatte, dass doch noch was schief geht, war ich diesmal tiefenentspannt. Ich hatte ein sehr großes Ur-Vertrauen, dass alles gut gehen würde, wo uns doch so viel eigentlich unmögliches Glück geschenkt wurde.
Die ersten 12 Wochen waren zäh. Vielleicht oder gerade weil ich von latenter, aber hartnäckiger Übelkeit geplagt war. Als die Nackenfaltenmessung kein auffälliges Ergebnis hervorbrachte und sich die Übelkeit langsam verabschiedete, machte sich heimliche Vorfreude breit und wir realisierten, dass wir im Winter zu viert sein werden. Okay, zu fünft, wenn man den Kater noch mit dazu zählt… 😉
Von da an rannte die Zeit und es traf das ein, was man von jeder Mehrfach-Mama immer wieder hörte, aber sich nicht wirklich vorstellen konnte: Die Schwangerschaft lief irgendwie neben Kind, Familie, Job her.
Mädchen oder Junge? Hauptsache gesund!
In unserem Familien- und Freundeskreis wurden Wetten abgeschlossen, ob wir noch mal weibliche Energie in die Sippe bringen oder diesmal ein kleiner Junge für männliche Verstärkung sorgt. Uns war es wirklich egal – hauptsache gesund – lautete die Parole meines Mannes auf neugierige Fragen.
Wir wussten natürlich schon, was es wird, haben den Wettpreis aber weiter in die Höhe getrieben. Und auch auf unsere Tochter war Verlass: Wurde sie gefragt, ob sie eine Schwester oder einen Bruder bekommen würde, antworte sie nach Lust und Laune und änderte ihre Aussagen minütlich… sehr zum Ärgernis der Fragesteller. 🙂
Mein Mann und ich fieberten dem 26.9. entgegen. Wir hatten gemeinsam Urlaub und wollten unseren 4. Hochzeitstag mit einem erfolgreichen Vorsorge-Termin beginnen, zu dem wir extra unsere Tochter mitgenommen haben. Sie zeigte sich mit ihren 3 Jahren verständlicherweise nur kurzzeitig beeindruckt von dem 3D-Ultraschall und langweilte sich schnell, während die Ärztin verdächtig ruhig wurde. In mir machte sich eine erste Panik breit, weil sie sich eine gefühlte Ewigkeit am Herzen aufhielt.
Da stimmt etwas nicht, dachte ich mir immer wieder.
Und ich sollte Recht behalten. Sie erklärte uns sehr ruhig, dass eine der Herzkammern kleiner wäre, als die andere und wir das unbedingt bei einem Spezialisten abklären sollten. Wir sollten uns aber bitte keine Sorgen machen, da das nur eine reine Vorsichtsmaßnahme wäre… Halt! Keine Sorgen machen? Das war nicht ihr Ernst, oder? Da war er der bekannte Boden der Tatsachen. Das war so gar nicht das, was wir hören wollten. Weder generell und schon gar nicht an dem Tag, an dem wir unseren 4. Hochzeitstag “feiern” wollten. Plötzlich drehte sich ein Gedankenkarussel und man saß mittendrin, ohne dass man überhaupt ein Ticket gekauft hatte.
Das kleine Menschlein auf dem Ultraschallmonitor sah doch so quietschfidel aus…
Eine erste Gewissheit
Wir mussten eine quälend lange Woche warten, ehe wir zum Kontrolltermin in die Charité konnten.
Der Professor schaute nicht lange, nickte seinem Kollegen zu, tauschte sich kurz mit ihm aus und bestätigte den schlimmen Verdacht: Unser Baby hat einen sehr seltenen Herzfehler.
Und obwohl man sich schon eine lange Woche mit diesem Gedanken beschäftigt hatte, schlugen wir wieder ungebremst auf dem Erdboden der Realität auf. Diesmal gab es nur keinen gedanklichen Notausgang mehr, der Irrtum oder noch nicht bestätigter Verdacht hieß.
Sie können die Schwangerschaft jederzeit beenden!
Man versicherte uns, dass man uns damit nicht allein ließe, ein Netz von sehr guten Spezialisten gespannt wäre und wir jederzeit – jede – Entscheidung treffen könnten. Was für Aussichten! Was für eine Aussage! Mein Mann war entsetzt, welche Möglichkeiten man uns einräumte. Und doch war man plötzlich seinem Schicksal allein überlassen.
In der einen Sekunde wiegte man sich noch in wärmender Glückseeligkeit, konnte kaum begreifen, dass man ein statistisches Wunder in sich trug und mit einem Schlag war die Vorfreude blanker Angst gewichen. Was bedeutet das? Herzfehler? Unser Kind? Wir hatten doch einfach nur ganz naive Vorstellungen, wie das Leben mit 2 Kindern aussehen könnte.
Ein Herzfehler, Krankenhausaufenthalte, Operationen kamen in dem Plan nicht vor. Und immer wieder drängelte sich der quälende Gedanke in den Vordergrund und machte sich da breit, wo nur wenige Tage zuvor kunterbunte Kinderpläne unser Denken bestimmten: Was, wenn es schief geht?
Ab da begannen furchtbare Tage. Ja, im Nachhinein waren es tatsächlich nur Tage. Mittendrin kam es uns aber vor wie Wochen, die einfach nicht vergehen wollten.
Wir mussten zu weiteren Kontrollterminen ins Virchow-Krankenhaus, sollten dort auch mit einem Kinderkardiologen sprechen. Nach 2 langen Stunden im Wartebereich wurde sich endlich unser Baby angeschaut, alles vermessen und anschließend das kleine Herzchen genau unter die Lupe genommen. Diesmal sollte es ein anderer Herzfehler sein, als beim ersten Termin in der Charité diagnostiziert wurde. Dieses Hin und Her kostete Nerven. Während der Pränataldiagnostiker weiter schallte, erklärte uns der Kinderkardiologe welche Möglichkeiten es gäbe, den Herzfehler zu operieren. Das war schwere Kost, viel schwerer als wir erwartet hätten und doch klang es so hoffnungsvoll und machbar… Zum ersten Mal seit 2 Wochen machte man uns Mut und Hoffnung.
Stille. Da ist noch etwas…
Die Worte des Pränataldiagnostikers rissen uns zurück in die Realität. “Der Magen ist sehr klein und offensichtlich schlecht gefüllt. Ich habe das in der letzten halben Stunde immer wieder beobachtet. Und Sie haben sehr viel Fruchtwasser. Es besteht der Verdacht, dass es sich in Verbindung mit dem Herzfehler um einen Chromosomendefekt handelt. Ich empfehle Ihnen dringend eine Fruchtwasseruntersuchung zu machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Trisomie vorliegt, liegt im 2-stelligen %-Bereich, aber unter 50%. Mit einer Trisomie 21 würde es Sie noch am günstigsten treffen…”
Ich schaute nur meinen Mann an, der verzweifelt um Fassung rang, dachte immer wieder “Oh Gott, was kommt noch alles?”, hatte aber eigentlich längst keine Kraft mehr, noch mehr Hiobsbotschaften zu verkraften. Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Alle Hoffnung, die der Kardiologe uns zuvor noch machte, zerplatzte plötzlich. Wieder stand ein Spätabbruch im Raum. Wieder diese furchtbaren Gedanken, diese “Was wäre wenn – Spiele”. Hätte der Arzt an dem Nachmittag Zeit gehabt, hätte er die Fruchtwasseruntersuchung direkt gemacht. So mussten wir weitere 24 Stunden warten, in denen unsere Gedanken Achterbahn fuhren. Wollten wir das überhaupt? Eine Fruchtwasseruntersuchung? Was änderte das Ergebnis an einer Entscheidung? Aber man ließ uns keine Wahl. Zumindest waren wir nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen.
Der Eingriff war weniger schlimm als erwartet. Es waren vielmehr die Szenarien, die man immer wieder im Kopf durchspielte, die einem fast den Verstand raubten. Das Ergebnis vom Schnelltest sollte Montag da sein. Es meldete sich natürlich niemand bei uns. Dienstag nahm ich mir dann ein Herz und rief mit zitternden Händen im Krankenhaus an. Nichts. Es gäbe noch kein Ergebnis. Ich solle mich morgen melden. Ich glaube niemand, der nicht schon einmal selbst in einer solchen Situation steckte, weiß wie schlimm es ist, zwischen Hoffen und Bangen gefangen zu sein. Es ist zermürbend. So sehr, dass wir am Ende hofften, dass das Schlimmste herauskäme, damit wir keine Entscheidung mehr treffen müssten. Dann gäbe es einen Grund. Eine Erklärung für alles. Und ein Ende wäre absehbar. Erschreckend, welche Gedanken man irgendwann hat…
Am Mittwoch telefonierte ich dann 2 Stunden lang dem Arzt hinterher, ehe ich ein Ergebnis bekam. Am Ende war ich wirklich ungehalten, wie man mit uns umgeht. Wir wollten doch einfach nur endlich Gewissheit haben…
Die schlimmsten Chromosomenschäden konnten ausgeschlossen werden. Und wir bekommen wirklich ein Mädchen. Und das in dieser Situation überraschendste für mich: Ich war unendlich erleichtert, dass unsere Tochter “nur” den schweren Herzfehler hat und wir eine reelle Chance haben, sie kennenzulernen!
Eine Diagnose: Funktionelle Trikuspidalatresie
Eine weitere Woche später mussten wir wieder in die Charité. Nunja, das Hin und Her kannten wir ja bereits und so überraschte es uns auch nicht, dass die vorläufige Diagnose aus dem Virchow-Krankenhaus revidiert und die damals in der Charité zuerst gestellte Diagnose gesichert wurde. Der Professor und ein in unseren Augen sehr guter Kinderkardiologe, der extra für uns mit dem Fahrrad vom Virchow-Krankenhaus in die Charité gefahren kam, legten sich gemeinsam auf die vorerst endgültige Diagnose fest: Funktionelle Trikuspidalatresie Ia. Die Trikuspidalklappe, die zwischen rechten Vorhof und rechter Herzkammer liegt, ist zwar angelegt, aber offensichtlich ohne Funktion. Demnach wird kein bzw. durch ein kleines Loch nur sehr wenig Blut in die rechte Herzkammer gepumpt, weswegen diese mittlerweile deutlich kleiner ist als die linke. Die Blutkreisläufe sind vermischt, weswegen sie nach der Entbindung aufgrund einer niedrigen Sauerstoffsättigung “blau” sein wird. Sie wird mindestens 2x am offenen Herzen operiert werden müssen, bevor der Herzfehler zumindest funktionell behoben sein wird.
Der Magen und die Fruchtwassermenge waren diesmal komplett unauffällig. Eine zweite gute Nachricht nach wochenlangem Bangen. Aber wirklich wissen, ob es “nur” der Herzfehler ist, wird man erst nach der Geburt
Der Kinderkardiologe nahm sich viel Zeit für uns, zeichnete, erklärte und beantworte all unsere Fragen und nannte für jeden notwendigen Behandlungsschritt offen die möglichen Risiken. Es tat zum ersten Mal gut zu wissen, dass dieses Netz aus Spezialisten wirklich da ist und alles tun wird, damit unsere Tochter gesund wird. Ja, gesund. So nannte er sie. Ein gesundes Kind, das nie Leistungssportlerin werden wird, aber sehr gute Prognosen hat, ein ganz normales Leben zu führen.
Schritt für Schritt
Ich werde im Virchow-Krankenhaus entbinden müssen. Gut, das sagte man uns direkt beim allerersten Termin. Damit kann ich mich arrangieren. Ich muss nur rechtzeitig ankommen. DAS macht mir ehrlich gesagt ein wenig Angst, denn schon bei unserer großen Tochter ging die Entbindung relativ schnell. Und der Weg dahin führt mitten durch die Stadt. Ein Kaiserschnitt kommt für die Ärzte jedoch nur bei medizinischer Indikation in Frage. Das beruhigt mich, auch wenn diese Tatsache sicher kein Weltuntergang gewesen wäre.
Alles, was nach der Entbindung kommt, wird anders sein, als wir es von der 1. Geburt kannten. Ich möchte eigentlich gar nicht wirklich darüber nachdenken, auch wenn es keine Alternative gibt.
Kein Kuscheln und erstes Kennenlernen. Die Kleine wird sofort untersucht werden und über eine Dauerinfusion Prostaglandin bekommen, damit sich der Ductus (der bei allen Neugeborenen offen ist, sich aber in den ersten Stunden / Tagen nach der Geburt verschließt) nicht verschließt. Sie wird zur Überwachung auf die Neugeborenen-Intensivstation kommen, wo wir sie zwar immer besuchen, aber eben auch nicht dauerhaft bei ihr sein können.
Im Idealfall wird man ihr über einen Herzkatheter in den ersten Lebenstagen einen Stent einsetzen, damit das Medikament abgesetzt werden kann. Klappt das nicht, wird sie direkt am offenen Herzen operiert und man setzt ihr einen Shunt in den Ductus.
Laut Arzt sind das alles “Routine-Eingriffe”. Puh. Mein kleines Würmchen abgeben und nichts tun können, während sie am Herzen operiert wird, klingt so ganz und gar nicht nach Routine für mich. Wenn alles gut geht, dürfen wir sie nach 2-4 Wochen (je nach Eingriff) mit nach Hause nehmen. Erst dann beginnt die kritische Zeit, in der wir täglich die Sauerstoff-Sättigung überwachen müssen.
Mit etwa 4-6 Monaten wird sie zum ersten Mal “richtig” am offenen Herzen operiert (sofern nicht schon die erste OP direkt nach der Geburt notwendig sein wird, weil die Herzkatheter-Untersuchung nicht zum Erfolg führt). Die 2. große OP erfolgt dann mit 3-4 Jahren. Und dann? Dann lebt sie funktionell mit nur einer Herzkammer. Über 90% aller Fälle gehen gut aus. Die Prognosen sind also wirklich gut. Es muss eben “nur” alles gut gehen… Und so sehr man versucht, seine latente Euphorie zu bremsen, weil es sich absurd anfühlt, das ganze irgendwie schön zu reden, so sehr muss man auch irgendwie hoffen, dass alles gut werden wird.
Wie geht es uns damit?
Warum wir? Diese Frage haben wir uns immer wieder gestellt. Haben wir nicht lange genug für ein eigenes Kind kämpfen müssen? Kam es nicht einem Wunder gleich, dass ich dann plötzlich einfach so schwanger war? Und dann spielt einem die Natur doch einen bösen Streich. Es ist so unbegreiflich, unwirklich und ich habe mich immer wieder gefragt, wann ich was falsch gemacht habe, dass es überhaupt zu diesem Herzfehler kommen konnte. Der Kardiologe sagte uns, dass es um die 10. Schwangerschaftswoche passiert ist. Klar, man geht mit diesem Wissen zumindest fiktiv seinen Kalender durch. Was habe ich da gemacht? Wo war ich zu der Zeit? Hatte ich Stress? Habe ich vielleicht irgendwas genommen, was das verursacht haben könnte? War ich zu unvorsichtig? Das unbefriedigendste ist: Es gibt keine Antwort darauf! Es ist einfach passiert. Warum auch immer. Vielleicht Umwelteinflüsse. Vielleicht doch eine genetische Fehlkonstellation. Vielleicht aber auch einfach nur Pech. Irgendwie ist das bitter und zugleich doch auch auf eine Art beruhigend. Es ist wie es ist. Wir sind mittendrin und müssen da jetzt durch.
Seitdem wir wissen, dass unsere Maus keine Chromosomendefekte hat, geht es uns besser. Und doch ist es ein stetiges Auf und Ab. Es gibt Momente, in denen man vergisst, dass das Baby einen Herzfehler hat, in denen das Leben, der Alltag einfach weitergeht. Und dann gibt es wieder diese quälenden Momente, die urplötzlich und ohne Vorankündigung über einen herfallen. Dann hört man die Uhr ticken… Noch 13 sichere Wochen bis zur Entbindung. Dann beginnt erst die eigentlich schwere Zeit, vor der wir am liebsten weglaufen würden. Und die Zeit rennt. Manchmal denke ich, sie macht das mit Absicht. Dann finde ich diese Schwangerschaft ätzend, den Bauch störend und überhaupt – lohnt sich das alles? Schaffen wir das? In diesen Momenten ist es schwer, nicht durchzudrehen. Jede Faser ist angespannt und oft bekommen Unschuldige dann meine Emotionen ab. Ja, es ist schwer. Verdammt schwer. Es kostet Kraft und Mut, den wir jeden Tag aufs neue finden müssen. Und niemand kann uns diese Bürde abnehmen…
Aber – und daran halten wir uns immer wieder fest:
Everything will be alright in the end. And if it’s not alright, it’s not yet the end.
Andrea
29/09/2017 at 16:40 (7 Jahren ago)Hallo Jessika,
Ich lese seit zwei Tagen immer wieder in deinem Blog- mal mit mehr Tränen in den Augen – mal gefasst!
Auch wir haben am 26.9. allerdings diesen Jahres unsere Diagnose bekommen!
Ich bin in der 25.SSW und unser kleiner soll ein hypothetische Linksherzsyndrom haben!
Es hilft mir deine Worte zu lesen und fühle mich nicht allein mit dieser schweren Diagnose!
Bis hierhin schon Mal danke dafür!
Ich freue mich riesig für euch, dass es Hannah soweit gut geht und sie alles geschafft hat!
Liebe Grüße Andrea aus Bonn